Die Emanzipation
des Sancho Pansa

Fotografie auf eigenen Wegen


Für den Katalog zur Ausstellung Schach und Poesie, 2016
der Schach- und Kulturstiftung G.H.S.

Um Spiel, Ausstattung und Spieler des Schach kreist ein Kosmos, den die Fotografie bisher zuverlässig bebildert: Bretter und Figuren – alt, modern, artifiziell oder schlicht, Kunsthandwerk oder fast schon Kunst. Spieler (seltenst: Spielerinnen) – grübelnd am Brett, im Gespräch, einsam, zweisam, kongressgruppiert. Kunstwerke, Schach in vielen Formen enthaltend.

Der Wald der Allegorien und Metaphern um das Schach ist dicht und reich, und mancher König-ohne-Land hat längst den Weg hinaus gefunden. Prosa und Lyrik, Film, Malerei und Grafik lassen uns die Stimmungsskala von Glück bis Verzweiflung während eines Spiels verfolgen, oder die erzählerischen Möglichkeiten des ganzen, vom Regelwerk befreiten Theaterensembles der Spielfiguren und die mit ihnen verbundenen Meme erleben. Facetten von Spielerpersönlichkeiten zwischen Ehrgeiz und Resignation entfalten sich, soziale und politische Hierarchien werden offengelegt und berichten von vergangenen Zeiten. Das alles ist schon da und viel beschrieben.

Als Kunst im eigenen Recht hat Fotografie ihre Anteile an den planetarischen Schach-Landkarten noch zu entdecken. Erst ein Schritt fort von den schützenden Mauern des Vertrauten, dann noch einer und noch einer – daraus könnte ein Weg werden, den zu suchen sich lohnt.

Wer die Klubs, die gewohnten Spielorte verlässt, begegnet da draußen in der Welt vielleicht unversehens einem Bauern. Steht der noch auf seinem eigenen Feld? Gehört es nicht längst dem anderen, der den Turm, sozusagen als Strohturm, vorgeschickt hat? Unsicherheit im Blick, Trotz um den Mund zeigen, dass es da etwas zu klären gäbe. Aber vielleicht bewacht der aufrechte Mann nur diese eine kleine Blume, die für ihn Seltenheitswert haben mag. An ihr zeigt die Natur, wie sie sich einen rechten Winkel zurechtmalt: auf zweifarbiger Fläche, damit man ihn erkennt, dann aber doch ein wenig vertüpfelt, verwischt, wenn man genau schaut. Wirklich gebraucht wird er nicht, von der Natur. Sie folgt anderen Gesetzen, denen wir in den nach ihr benannten Wissenschaften hinterherforschen. Mühelos könnte sie erläutern, warum die Wassertropfen genau so und nicht anders springen und tanzen – wen interessiert’s? Vor dem Hintergrund des schwarzweißen Bretts jagen sie für Augenblicke durch die Luft, Chemie, Licht und Zeit verleihen ihnen langes Leben auf Papier, zu unserer Freude.

Wer bereit ist, anders zu sehen, wird erkennen, dass die scheinbar ziellos streifenden Flaneure Spuren in die Szenerie zeichnen, wie Schiffe sie im Meer hinterlassen. Folgen kann ihnen niemand, jeder geht seiner Wege, aber dann und wann ergeben sich überraschende Begegnungen.

Hinter einem Drahtzaun drängt eine Menge, vor der Absperrung tut sich leerer Raum auf. Wer sind die Ausgegrenzten? Wer befreit sie aus dem compound und wie kamen sie dorthin? Sind sie geflüchtet, gestrandet, abgefangen? Vielleicht aber warten sie nur auf Einlass ins Einkaufsparadies, frühzeitig, gierig, murren und scharren, in den Taschen die Scheckkarten umklammernd.

Wenn der Spaziergang sich in der Dämmerung dem Ende zuneigt, Konturen im verblassenden Licht des Tages verschwimmen, taucht unversehens eine Fata Morgana vor dem Umherstreifenden auf, eine rätselhaft erstarrte Gang. Einzelne Figuren sind nicht klar auszumachen, und doch stehen sie da als luzide, fast schwebende Wand, der man sich lieber nur zögerlich nähern will.

In der Wärme und dem Gemurmel des Cafés treffen wir wieder auf die Spieler. War da nicht vorhin noch der – ach, das ist Stunden her. Oder Tage? Jahre? Die Bretter liegen da wie gewohnt. Ein Spieler setzt sich, streicht vorsichtig über die rissigen Inlays aus Elfenbein und Obsidian, dreht eine leicht ramponierte Dame zwischen den Fingern. Altes Brett, alte Figuren. Schon immer da. Nur die Spieler wechseln. Sie stehen auf, gehen fort, verschwinden. Neue rücken die Stühle zurecht. Wir haben verstanden.

© Ulrike Budde