Ite! Ludite!


Für den Katalog zur Ausstellung Schach und Poesie, 2016
der Schach- und Kulturstiftung G.H.S.

Aus schwarzen Nächten und weißen Tagen zeichnet Jorge Luis Borges das Gefängnis, in dem sein Schachspieler festsitzt1, unrettbar lebenslang. Wie seine Figuren weiß auch der Spieler nicht, welchen Zug die Hand der Vorsehung als nächsten für ihn parat hat. Nur das Ende ist gewiss: Omar Khayyams lyrischer Urteilsspruch packt alle, Mensch wie Figur, in die hölzerne Kiste. Borges sieht das im Kriegerischen verwurzelte Schachspiel als Schicksalsspiel der Erde, geboren aus Staub und Zeit und Traum und Agonien, in unendlicher Wiederholung, mit immer neuen Teilnehmern an den Brettern. Das Leben bestand für ihn aus dunklen Bildern voller Spiegelfechtereien, wuchernde räumliche Systeme repetierten das Immergleiche bis in den Wahnsinn hinein, ein Entkommen war nicht vorgesehen. In seiner Erzählung Die Bibliothek von Babel inszeniert er ein alle Sprachen, alle Wörter und allen denkbaren Wortunsinn enthaltendes architektonisches Ungeheuer, das diejenigen verschlingt, die sich zu manisch auf die Suche begeben – nach einem Buch, einem Wort, nach Sinn. Ein Labyrinth aus streng logisch entworfenen und angeordneten Elementen, mit unendlich vielen Möglichkeiten und Richtungen, sich darin zu bewegen, und einem Zentrum, das erreicht wird oder auch nicht.

Unter den Labyrinthen ist das Schachspiel das tückischste. Die Anordnung und Aufteilung der Felder suggeriert Klarheit, den Figuren sind eindeutige Rollen und Kompetenzen zugeschrieben, die Spielfläche breitet sich eben und mit einem der schlichtesten Farbspiele zwischen den Spielern aus. Labyrinthisch? Angesichts dieser Übersichtlichkeit, die nur noch vom Verkehrslernteppich im Kinderzimmer übertroffen wird? Lakonischer als ein Schachbrett ist Grafik kaum denkbar.

Und doch. Und gerade darum. Auf dieser spartanisch dekorierten Fläche sind die Möglichkeiten, sich zu verirren, sich zu verlieren, geradezu gigantisch. Raffinesse und Tücken offenbaren sich bereits, sobald mit dem ersten Zug die Phalanx der beiden 16er – Blöcke aufgebrochen wird. Sofort verändert sich das unsichtbare Wegenetz über dem Brett, die Kraftfelder der Figuren verschieben sich, Konfliktlinien tauchen auf, die zuvor nicht da waren. Hecken und Mauern, Durchbrüche, Fallgruben und Wassergräben erstehen vor dem inneren Auge. Der andere Spieler greift zu, zieht eine Figur. Möglicherweise so, wie man selbst es mit Kalkül vorbedacht hat. Glück, es geht weiter auf der eigenen imaginierten Landkarte. Im anderen Fall muss sie neu entworfen werden. Und wieder. Und noch einmal. Und nie die Konzentration verlieren, das Wissen um Varianten und Finten vernachlässigen, den anderen zu tief in die eigene Suche blicken lassen. Keine Unsicherheit, kein Schwanken und Zaudern sind gestattet.

Unendlich viele Züge, Kombinationen, Strategien und Taktiken lassen sich lernen, aneignen, üben, üben, üben, mit klarem Siegeswillen immer wieder üben. Nie wird ein Mensch da zu einem Ende kommen. Die Anzahl der möglichen Züge ist zwar nicht unendlich groß, für die menschliche Fantasie allerdings nur in einer Geschichte und einer darin illustrierten Formel zu greifen: Die Rechnung mit den vom Brahmanen verlangten Weizen- (oder Reis-)körnern auf dem Schachbrett des Sultans ist hinlänglich bekannt, sie führt direkt in die Groteske und geht so: auf’s erste Feld soll ein einzelnes Korn gelegt werden, auf das zweite zwei Körner, auf das dritte vier, auf das vierte acht undsoweiter. Die Formel für dieses exponentielle Wachstum lautet 264-1. Umsetzen läßt sich das nicht: die Menge der Körner würde die realen Gegebenheiten jedes Trägermaterials sprengen und die halbe Welt unter sich begraben. In der Entstehungszeit der Mär vom gierigen Sultan, der mores gelehrt werden sollte, zählten Körner zu den kleinsten handhabbaren alltäglichen Objekten und waren ein gängiges Maß. Die vorgebliche Bescheidenheit des Brahmanen – „ich will nur Weizenkörner“ – entpuppt sich als Spiegelbild zur Maßlosigkeit des Herrschers.

Die erzählte Imagination der Vielfalt in den Spielzügen des Schach vermittelt uns eine Vorstellung, mit der wir das scheinbar Grenzenlose zumindest soweit begreifen können, dass wir unsere eigene, durch die Fähigkeiten des Gehirns gesetzten Grenzen erspüren. Hoch- und höchstbegabte Menschen erkennen einen größeren Teil der Möglichkeiten als andere, denen Erfahrung helfen muss, ohne Garantie für einen Erfolg. Maschinen, oft im Rechnerverbund, filtern je nach Spielstand die Varianten (wobei ihre Algorithmen letztlich auf derselben Lakonie wie das Schachbrett beruhen: 0 und 1) und legen diejenigen mit den höchsten Erfolgsaussichten dar.

Wenn der Guardian über den jungen Rameshbabu Praggnanandhaa schreibt Praggnanandhaa’s last dozen or so moves were almost all the first choice of the computer2, dann wird das Können der Maschine zum Gradmesser für das Können des Menschen genommen. In solchen Formulierungen zeigt sich der Kommentator nicht mehr vorrangig vom überraschenden Spielverlauf, von der Volte, vom chaotischen Moment verblüfft, sondern vom Ausmaß an Übereinstimmung der Entscheidungen des Menschen mit den von der Maschine aufgeblätterten Vorschlägen. Immer noch ein Spiel? Für Sport gelten auch im Schach andere Wertungen.

Spielen heißt, sich in einem überschaubaren räumlichen Rahmen und einem bekannten Regelsystem dem darin irgendwo verborgenen Unbekannten auszuliefern, in der Absicht, damit umzugehen und das Ganze mit einem Gewinn – an Lust, Geld oder materiellen Dingen – und möglichst unbeschadet zu einem Ende zu bringen. Spielen bedeutet oft, Ordnung in ein absichtlich herbeigeführtes oder unabsichtliches Chaos zu bringen. Für ein gelingendes Spiel sollte eine gewisse Übereinstimmung mit persönlichen Fertigkeiten, Befindlichkeiten und Bedürfnissen gegeben sein. Nur wenige wagen sich in Turnschuhen zur Eiger-Nordwand vor, Kundige halten sie in der Regel rechtzeitig auf. Das Spiel um des Spiels willen – ein wilder, phasenweise absehbarer, kalkulierter Tanz durch Licht und Schatten, mit Figuren (Puppen3, wie Herder sie einmal nennt), die mal stark, mal schwach sind, je nach Konstellation auf dem Brett und nach Geschick der führenden Hand. Wie lang dauert ein Schachspiel? As long as it takes, or until Duchamp is sleepy4.

Schach wird oft als das Spiel bezeichnet, das das Leben abbildet. Der Vergleich hinkt natürlich heftig, denn im Schach gibt es nie, im Leben gelegentlich die Möglichkeit für ein Backtracking: falls man vor die Wand gelaufen ist, einen Schritt zurück, neu probieren, eventuell einen weiteren Schritt zurück und nochmal neu, solange bis die passende Abzweigung gefunden ist. Nix da: Berührt ist geführt. Und die Zeit, die andere unschlagbare Chefin, erlaubt real sowieso höchstens ein same, same, but different, anders formuliert: man steigt nie in denselben Fluss usw. Schach kondensiert in Figuren und Regelwerk zwar altertümliche Kriegskunst, doch in den Jahrtausenden bis zur Erfindung moderner Waffentechnik verliefen längst nicht alle Schlachten nach den immergleichen Mustern, wie Soldaten aufzustellen und wann welche Einheiten wohin zu reiten, rennen, schwenken hatten. Manchmal konnten Feldherrn erleben, dass sie auch mit ganz anderen Kräften zu rechnen hatten: Shakespeares Macbeth begreift in der Schlacht von Birnam, als – wie von den Hexen prophezeit – der Wald auf ihn zukommt, dass er verloren hat. Eine Verschwörung geheimnisvoller Mächte – das mag manchem von schweren Minuten am Brett als Verdacht vertraut sein.

Denn immer wieder, in einem Moment, der später in der Rückschau und Analyse vielleicht als der entscheidende bezeichnet wird, regiert uneingeladen er, der eine, der ungekrönte Herrscher des Bretts: der Zufall. Er tritt in unterschiedlichen Kostümen auf, als Irrtum, Denkfehler, verkehrte Schlussfolgerung. Als Erschöpfung, Müdigkeit, Hast oder – am schlimmsten – Gleichgültigkeit. Manchmal nimmt er das Spiel gleich von Anfang an in seine Hand, als falsche Strategie, unsinnige Kombination. Der Zufall schnippt in die Synapsen und schon hat man das Gegenüber unter- oder überschätzt, stürzt in die Fallen psychologischer Kriegführung, kennt Vorlieben und Schwächen des Gegners nicht genau genug oder ignoriert, was man eigentlich wüsste. Vielleicht verliert man auch einfach nur die Geduld, oder – wie Martin Sorescu seinen Gegner behaupten läßt5 – die Lust, den klaren, eindeutigen Bezug zu diesem, genau diesem einen Spiel, dem man sich mit jeder Faser von Körper und Geist widmen sollte.

Manchmal also ist es zum Verrücktwerden. Maze ist das englische Wort für einen Irrgarten, amazing = erstaunlich, überraschend, verblüffend ordnet sich ihm zu, in seiner Geschichte taucht altnorwegisch masa = verwirrt auf, und es gibt eine Verbindung zum italienischen matto = verrückt.

Die Zeit mit ihren Schleifen, Sackgassen und Verzögerungen als Mutter vieler verrückter und erstaunlicher Entwicklungen, für die gelegentlich Geduld aufgebracht werden muss. Wie im Fall von John Cage, der 1943 für eine Duchamp-und-Schach-Ausstellung ein Bild malte, mit Tinte und Gouache: Notationen, die aussahen wie beliebig auf die Felder eines Schachbretts verstreut und gehäufelt. Das Bild verschwand, tauchte 2005 wieder auf und wurde erst da erkannt als das, was es war: eine durchdachte Komposition für Solo-Klavier. Es ist jetzt Bestandteil der Chess Pieces6 und als Einspielung erhältlich.

O Zeit, deine Pyramiden7: mit diesem Ausruf bezieht sich Borges in der Bibliothek von Babel auf Shakepeares Sonett 123, dessen erste Zeile sich fortsetzt: ich bin noch, wer ich war8. Wer Spannung aushält, das Verstreichen der Zeit, des Lebens erträgt, nicht einknickt vor dem, was sich selbst pyramidal, d.h. als großartig und mächtig präsentiert, könnte im Labyrinth bestehen. Als Proviant auf dem schwierigen Weg kann der eine oder andere Band mit Gedichten nützlich sein. Poesie beruht wie das Konzept des Schachspiels in weiten Teilen auf der Kunst der Reduktion, daher nährt sie den Geist: sie fordert auf, zu ergänzen, zu erweitern, über das Wort, die Zeile, die Strophe hinauszudenken. Fantasie ist gefragt, die Sprache der Bilder, die befähigt, ungewöhnlich zu kombinieren, überraschende Entscheidungen zu treffen, weiter zu sehen.

Im Zentrum des Labyrinths wartet – bewegungslos, leise atmend – der Minotaurus. Der König selbst in seiner ganzen Größe und Pracht. Wer ihn erreicht und packt, hat das Leben gewonnen. Ein Blick in seine Augen zeigt: er ist nichts. Eine Figur, ein Stellvertreter. Hinter ihm schimmert das Eigentliche: ein schwarzer Spiegel9. Wir sehen hinein, erkennen unser Gesicht, den Schrecken darin. Im selben Moment erlischt alles. Matt, ohne Revanche.


  1. Jorge Luis Borges, Schachgedicht I, Schachgedicht II; in diesem Band S. 56 – 59 ↩︎
  2. The Guardian, 21. Oktober 2016: Leonard Barden: Rameshbabu Praggnanandhaa chases world grandmaster age record at 11 ↩︎
  3. Johann Gottfried von Herder, Das Schachspiel. In diesem Band S. 102 ↩︎
  4. 4 Victoria Miguel, How long is a game of chess? johncage.org Oktober 2016 ↩︎
  5. Martin Sorescu, schach. In diesem Band S. 92 ↩︎
  6. John Cage, johncage.org Oktober 2016 ↩︎
  7. J. L. Borges, Die Bibliothek von Babel. Hrg. Klaus Detjen. Steidl Verlag, Typographische Bibliothek, Band 4, S. 43. Göttingen 2001 ↩︎
  8. William Shakespeare, Die Sonette. Zweisprachige Ausgabe englisch-deutsch. Übertragen und mit einem Nachwort von Hanno Helbig. Manesse Bibliothek der Weltliteratur, S. 251. Zürich 1983 ↩︎
  9. J. L. Borges, Der schwarze Spiegel. Erzählung, 1935. In zahlreichen Ausgaben erschienen ↩︎