Flör versinkt


Einer der Texte, die sich der seltsamen Welt der Gärten und Pflanzen anzunähern versuchen.
Erschienen in Biss München.

Nie von einer Biene gestochen. Oder Hummel, Wespe, Hornisse. Sah Flör, leicht rundliche, weiche Frau von mittlerem Alter, die in einem persönlichen, umfassenden Zustand von Glück lebte, dass die von ihr ausgewählten Blumen umflogen wurden von solchen Tieren, ging sie in die Knie und schüttelte ihr kastanienbraunes Haar einige Male nicht zu wild von rechts nach links und zurück. Mit den Händen wedelte sie sanft im unteren Bereich der Pflanzen und sprach leise dazu. Nichts Spezielles, einfach so Wörter – Schinkensemmelsemm oder Parkplatzfriedenfrei – je nach Stimmung, nur auf die Luft kam es an, den kleinen Wind, den sie mit einem Wort eher heftig, mit einem anderen staubleicht erzeugte. Immer flogen die Insekten zügig ab und gaben ihr freie Bahn. Gesichert hatte sie vorher schon, darauf geachtet, dass nicht so bald Leute vorbeikommen würden, obwohl ihr das letztlich völlig egal war, Risiko hin oder her. Da sie beinahe wöchentlich ein Blumenbad benötigte, eilten ihre Finger geübt über Knöpfe und Reißverschlüsse, das weiße Sprungkleid trug sie direkt auf der Haut, und so blieb als größte Kunst die Entscheidung für den richtigen Moment.

Petunien, Lobelien, Bechertulpen, Akeleien – welche Blumen kannte sie nicht? Sie las die Stadt wie eine Landkarte aus Beetklecksen, Wiesengepünktel, Zierstrauchzeilen, Baumstrichen. Wachte sie morgens auf in der Sehnsucht beispielsweise nach einem bestimmten Blau, einem Blau, das besoffen und atemlos zugleich machen konnte, so wusste sie von ihren ständigen Streifzügen, wo Rittersporn wahrscheinlich gerade heute seine Blüten öffnen und sie sich hineinfallen lassen könnte in sein Meer aus Farbe, nackt und glücklich, sich rundum drehen, bis dieses Blau ihre Haut durchdrungen und sie durchflutet hatte von Kopf bis Fuß. Für Nuancen von Rot war sie schon weite Wege gegangen, nur um sich in genau den Garten einzuschleichen, wo Rhododendronbüsche im von ihr erträumten Farbton glühten und sie so reich erfüllten, dass sie fast zwei Wochen davon zehren konnte. Wie in sich anders Gelb sein konnte! Hoch trillerndes, zitroniges Gelb, die fast chorisch sonnigen, bräunlich geerdeten Varianten von Sonnenblumen – Verschiedenheiten, die sie in Wellen aufnahm und mal brauchte und suchte, an anderen Tagen geradezu floh und sich vielleicht im Violett eines Beetes voller Stiefmuttern mit deren fast ununterschreitbar tiefem Farbton in einen Gegenklang hüllte.

An diesem leicht kühlen Spätsommermorgen stand sie vor einer Gruppe schulterhoher Weigelien, summte die zwischen Zweige und Blätter gestreuten daumengroßen Farbtupfer in Weiß, Rosa, Rötlichstreifig an. Auf dem Kiesweg vom Parkeingang her schien niemand in unmittelbarer Nähe unterwegs. Die beiden Polizisten, die neben dem Brunnen gestanden hatten, suchten wohl Schulschwänzer oder Fahrraddiebinnen und waren offenbar wieder fort. Jacke, Rock, Hemd, Schuhe hatte sie bereits abgelegt, sie stand in ihrem weißen Batistkleid bereit, riss die Klettverschlüsse auf, der Stoff glitt an ihrem Körper auf das Gras. Sie hob die Arme, dehnte sich lang in die Sonnenstrahlen, die hinter Wolkenfetzen hervorbrachen und wollte sich gerade mit einem Schritt ganz dicht zwischen die zierlichen Blüten gleiten lassen, als sie hinter den Büschen etwas Dunkles bemerkte. Dunkel, klobig, eine Art Buckel auf dem Boden. Ihr angestauter Atem pfiff hörbar heraus. „Also“, sagte sie mit Deutlichkeit. Ein Ruck ging durch das da vorn, es bekam ein Stück Gesicht, ein Auge, das andere verschwand hinter einer Kapuze, vor allem aber erschien ein Mund. „Psst“, sagte der. Dann: „Oh!“ Das Auge glotzte auf Flör, die mit erhobenen Armen stand, eine nicht angekündigte Schönheit im Park. „Wieso psst?“ fragte Flör. „Bist du mir nachgegangen?“ Der Kopf am Buckel schüttelte neinnein. „Und wieso versteckst du dich da? Dich sieht doch jeder.“ Wieder bat der Mund „psst“, leiser. Aus dem Augenwinkel sah Flör die beiden Polizisten am fernen Ende der Lindenallee herumschauen. Der Kopf tauchte hoch, das zweite Auge machte alles zu einem ganzen Gesicht, ein junger Typ kauerte da hinter den Büschen. Sie sahen einander an, nicht lange, und vielleicht erst sie, dann er, oder umgekehrt, begann ein Lächeln. Sie streckte die Hand nach ihm aus. Die Kapuze glitt von seinen Haaren, er schaute unentwegt auf Flör, rutschte zur Seite. Sie schob die holzigen Zweige der Weigelien auseinander, bog sich ihm entgegen. Das war der Moment, in dem es nichts gab außer ihnen beiden, nichts auf der Welt war vorhanden, die Welt waren sie, und der Himmel gehörte ihnen. Dann teilte sich der Moment in zwei, und in dem zweiten sah Flör, dass die perspektivisch noch recht kleinen Polizisten in ihre Richtung liefen und dabei ihre Mützen festhielten. „Wieso suchen die dich? Hast du was geklaut?“ fragte sie, bückte sich, griff mit einem Arm nach ihrem weißen Blumenbadekleid, schlüpfte hinein. Der Junge starrte weiter, abwechselnd auf sie oder einfach in die Luft, kam erst langsam im zweiten Teil des neuen Moments an. Er räusperte sich, flüsterte: „Weil ich keinen, also ich hab eben nicht, ich bin, also ich bin nicht von hier.“ Nicht nur vom Flüstern, auch von seiner Sprache verstand Flör ihn nicht leicht. „Seh ich, dass du nicht da wohnst. Wo dann?“ Unter dem Kopf hoben sich die Schultern. Stille. „Aha.“ Sie kniete sich nieder, beugte sich vor. „Warte. Die kriegen uns nicht.“ Sie schüttelte ihr kastanienbraunes Haar, dazu flossen Worte wie ein Bach im Wiesengrund. Ihre Hände strichen über das Gras, zwischen die dünnen Stämme der Weigelien. Etwas bewegte sich um den Jungen. Eine Kuhle formte sich, er sank langsam darin ein, sah verwundert auf Flör, die unter ihrem Vorhang aus schwingenden Haaren den Boden streichelte. Tiefer und tiefer tat sich die Erde auf, der Junge wollte heraus, doch etwas hielt ihn fest, drückte ihn nach unten zwischen die rhizomischen Adern der Erde. Als Flör einmal aufschaute, waren die Polizisten keine Minute mehr von ihr entfernt. Sie würden sich öffentlich geärgert und erregt fühlen, das war klar, obwohl niemand außer ihnen Flör und den fremden Jungen sehen konnte. Die Weigelien beugten sich über die Frau im dünnen weißen Kleid, ihre Blätter kitzelten sie am Rücken. Hingebungsvoll hockte sie da, spürte, wie sich der Boden unter ihr verschob, wie sie murmelnd, fast singend in ihn aufgenommen wurde. „Ich bringe uns wieder raus! Keine Angst!“ rief sie noch, bevor Hirtentäschel und Zitterrispe sich über ihr zu einem federnden Teppich schlossen. Die Polizisten erreichten schwer atmend den Rand des Wiesenstücks. „Und wo hast du jetzt was gesehen?“ fragte der eine. „Ich?“ fragte der andere zurück. „Gar nicht. Wieso?“

© Ulrike Budde, Mai 2008