Gründet Inseln!


Die Zeit, eines der größten Rätsel, ist nicht einfach zu fassen.
Ein Versuch.

Please, could you tell me the time?

Ja, Mister –

Onobue.

Danke. Peters. Sehr erfeut. Einen Moment, bitte, Mister Onobe. Ich suche ja schon. Sie müssen nämlich wissen, dass mir die Zeit vor kurzem abhanden gekommen ist. Wie das so geht, nicht wahr? Also ist es nicht so einfach, sie Ihnen jetzt mitzuteilen. Aha, da –

Aus einer Innentasche seines Jacketts zieht er einige Zeiger, ordnet sie auf der Handfläche sternförmig an.

Welche Zeit möchten Sie denn wissen?

The time. Can you tell me the time, please?

Bin schon dabei. Ihre Zeit liegt an Ihnen. Verstehen Sie? You choose. Ich kann Ihnen doch nicht einfach meine Zeit mitgeben. Dann habe ich ja wieder keine. Suchen Sie zwei oder drei Zeiger aus, die Ihnen gefallen, und ich ermittle für Sie die Zeit dazu. Die passt dann genau zu Ihnen. Maßgeschneidert, wenn Sie so wollen. Les placements, please.

Der japanische Reisende betrachtet die Auswahl der Zeiger auf Herrn Peters Hand. Er sieht ihn an. Deutet mit dem Zeigefinger auf einen.

Beautiful. That one. But where is –

Noch einen, bitte. Mit zweien ist es leichter. Two, please. Und klarer, so man das überhaupt erwartet. Und möglichst passende, wenn der Hinweis erlaubt ist. So schwierig ist das mit der Zeit ja nicht, nicht, wenn man es richtig anpackt. Meine Mutter ist auch so kompliziert. Verstehen Sie? Meine Mutter! My mother. Complicated. Sie besitzt schon eine Weile eine Schildkröte. Die lebt langsamer als ich alt werde, sagte sie, als sie mir das Tier zum erstenmal gezeigt hat. The turtle, you know. Slow. A young, slow turtle. Nice. But slow. Im Garten meiner Mutter muss ich meine Zeit verloren haben, ganz sicher. Vorgestern, oder –

Herr Peters schiebt einige Uhrzeiger auf seiner Hand hin und her: So könnte man anfangen. Der hier steht auf – nein, das war gestern früh. Ich habe noch nicht sehr viel Erfahrung. Eigentlich macht so etwas immer meine Frau, so etwas Kleinteiliges. Aber die geht ja nun – spazieren, große Strecken, fast täglich. Seit neuestem aber erst. Ich bin bei uns für das Geld zuständig. Wie in der Firma. Für die Bilanz, eine ausgeglichene Bilanz. Meine Zeiger für das Geld stehen immer im rechten Winkel zueinander. Sehen Sie: so.

Aha. Splendid. I need time.

Der japanische Gast sieht sich um. Über ihm fliegen die ersten Schwalben kopfunter über den Platz. Im Kreisverkehr bewegen sich Autos von unterschiedlicher Farbe. Keines verläßt ihn oder kommt neu dazu. Eine aufgefädelte Rundtour, Karrussell, harmonisch. Ein Juwelier verriegelt den Rolladen vor den Schaufenstern seines Geschäfts, blinzelt in die Sonne und betritt das Café im Nebenhaus. Zwei Frauen sperren einen Schuhladen zu, rücken die Riemen ihrer Schultertaschen zurecht, gehen mit Eins-Zwei zügig los und biegen nach wenigen Schritten lachend in eine dunkle Seitengasse. Die Autos fahren im Kreis, man sieht, wie einige Fahrer telefonieren und dabei gestikulieren oder mit dem Kopf nicken.

Herr Peters schließt den Aktenkoffer. Mister Ono, warten Sie bitte. Ich will versuchen, genau zu sein. Eine Herausforderung, der ich mich stelle, selbstverständlich. Ihre Geduld, wenn ich so sagen darf. Gleich, gleich werde ich –

Ruhig geht er zwischen den fahrenden Autos über die Fahrbahn, stellt sich auf ein weißes Podest in den Rabatten, die die Mitte des Kreisverkehrs verzieren. Er nimmt einige größere Zeiger aus seiner Aktentasche.

Hier, ruft er, Mister Onobo, hier habe ich beispielsweise Mitternacht. Man glaubt es nicht, aber betrachten Sie die Lage des großen und des kleinen Zeigers. Eindeutig, würde ich sagen. Unverwechselbar. Die Grundlagen, sozusagen. Dann wissen Sie, wovon ich ausgehe. Vorausgesetzt … – aber wir sind uns ja nicht einmal über den Ort einig.

Oh, ruft seinerseits der japanische Gast und lächelt. The Ort. Here, take it from here, please.

Gut, aber besser wäre es, den Unterschied herauszuarbeiten. Mitternacht in Atlanta heißt ja noch lange nicht Mitternacht bei uns. Wo kommen Sie her, Mister On? You, where?

Ah, yes, Yokohama. Simply Yokohama. Oh yes. Für ein sehr dezentes Neigen des Kopfes in die Richtung von Yokohama dreht der Japaner Herrn Peters kurz den Rücken zu.

Oh, nein. Warten Sie, bitte warten Sie, nicht abwenden, ich hab’s gleich. Zeit, das ist doch Musik. Zeit sollte man immer –

Herr Peters! Hallo, Herr Peters! Endlich –

Eine junge Frau im weißen Chiffonkleid winkt von einer Straßenecke. Sie geht auf Herrn Peters zu, bleibt immer wieder zwischen den Autos stehen, die ohne zu hupen um sie herumfahren, und reckt die Arme nach oben.

Gestern in der Oper, oder war es – vorgestern? Ich habe Sie – so vermisst.

Mich? Aber Sabina, ich bin Chorist, und erst in zwei Wochen wird wieder ein Stück mit Chor gegeben. Bis dahin: nur Opern ohne Chor, jedenfalls fast, ohne mich, soviel ist klar.

Aber, Herr Peters, unmöglich. Gestern – oder war es vorgestern – trat der ganze Chor auf, alle. Nabucco. Und Sie nicht dabei. Die blonde Frau im weißen wehenden Kleid steht zwischen den violetten und orangefarbenen Blumen der Stadtgärtnerei. Sie pflückt einen Stiel des Riesenmohns an ihrer Seite und hält ihn Herrn Peters entgegen.

Da, bitte nehmen Sie dies als Zeichen –

Der japanische Gast legt den Kopf ein wenig schief. Sein Mobiltelefon klingelt, er spricht und betrachtet dabei unentwegt die Frau zwischen den Beeten.

Danke. Aber dann hatte ich ja den Auftritt vergessen, habe meinen Einsatz verpasst, meine Szene vermasselt. Sabina, sind Sie sicher: Nabucco?

Bestimmt. Ganz sicher. Ohne Sie in der ersten Reihe des Chores, Sie nicht als schwankender Gefangener – ich war so traurig. Können Sie das verstehen, Herr Peters?

Ja, ja, aber es ist jetzt nicht mehr zu ändern. Vorbei ist vorbei, in der Oper wie auf der Autobahn. Ich suche gerade die Zeit für diesen Herrn da, den japanischen Herrn. Er hat natürlich völlig andere Vorstellungen davon als ich. Man wird sich annähern müssen, eine zeitlich begrenzte Annäherung, temporäre Verdichtung von nicht messbaren Abständen, überschaubar, allerdings im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit. Vorhin stand er noch da. Ich finde ihn – jetzt, da drüben wartet er vor dem Restaurant. Er möchte die Zeit, hiesige Zeit sagt er, aber vermutlich hat er keine Ahnung davon, was das bedeutet, jetzt, mittags, wo es am heißesten ist.

Zeit? Zeit für einen Mann, den ich nicht kenne? Herr Peters, Sie sind ein Philantrop, auf Sie kann man sich verlassen. Aber mit Zeit habe ich nichts zu tun. Ich nicht. In so etwas lasse ich mich nicht hineinziehen. Auch nicht von Ihnen, Herr Peters. Und ich dachte –

Aber so warten Sie doch, Sabina. Ich kann Freikarten besorgen, für morgen oder später – meine Frau macht sich nichts aus Oper – meine Mutter singt ihrer Schildkröte vor, langsame Lieder, zum Heulen und alles falsch. Dort, wissen Sie, dort habe ich meine Zeit verloren. Darüber wollte ich doch mit Ihnen sprechen. Allein. Nur Sie und ich. Wenn das hier –

Er ruft über den Platz: Herr Onobone, wissen Sie, was ich glaube: Die Schildkröte hat meine Zeit gefressen. Im Garten. Young turtle. My time. Has eaten my time.

Der japanische Gast spricht mit einem Kellner, dieser nickt und geht in das Lokal zurück. Herr Onobue beobachtet Sabina, die sehr langsam und mit gesenktem Kopf zwischen den Autos hindurchgeht. Der Kellner kommt wieder aus dem Lokal, auf seinem Tablett stehen eine Flasche und drei Gläser. Er zeigt Herrn Onobue die Flasche, öffnet sie, schenkt ein. Herr Peters hält mehrere große Uhrzeiger in einer Hand, die Mohnblume in der anderen. Er sieht Sabina nach, ermattet, mit hängenden Schultern und ebenso hängenden Mundwinkeln. Ein Autofahrer hält seinen Wagen an, setzt sich an den Rand der Rabatten und telefoniert.

Sabina, flüstert Herr Peters für wen soll ich denn jetzt noch singen? Er hebt eine Hand hoch über seinen Kopf, die Uhrzeiger blitzen in der Sonne, einige Schwalben fliegen knapp darüber hinweg. Sabina, bitte, drehen Sie sich nicht um, sehen Sie einfach geradeaus, dann habe ich noch eine Chance. Vielleicht ist mir meine Zeit auch nur aus der Tasche gefallen. Ja, bestimmt, das halte ich sogar für viel wahrscheinlicher. Einfach aus der Tasche, wie man einen Schlüsselbund verlieren kann. Aber dann hätte ich eine Chance, sie wiederzufinden. Vielleicht hat jemand sie abgegeben, beim Fundamt, beim Uhrenhändler. Was würden Sie mit gefundener Zeit tun? Sie behalten und verwenden? Sie nicht, Sabina, Sie nicht. Aber jemand anderer? Wer weiß? So tun, als sei sie ein vergessener Rest von der eigenen Zeit, aus einem toten Winkel gekehrt, vom Speicher geholt? Ein Kondensat, Brühwürfel, aufgegossen. Unmöglich. Das merkt man doch, wenn man mit fremder Zeit herumläuft, glauben Sie nicht. Sabina? Ich schon, ich würde es sofort wissen, wenn die Zeit, in der ich lebe, nicht meine eigene ist. Sabina.

Das weiße Chiffonkleid weht im leichten Wind, die roten Blütenköpfe auf den langen Stielen des Mohns durchläuft ein sanftes Zittern. Herr Onobue nimmt eines der gefüllten Gläser, wendet sich an Sabina, deren Weg fast direkt an ihm vorbei führt. Sie schüttelt erst den Kopf, dann akzeptiert sie das Glas. Der Kellner macht sich mit dem Tablett und dem dritten Glas auf den Weg durch den Strom der rollenden Autos, bis er Herrn Peters erreicht. Der steckt die Uhrzeiger zwischen die Blumen, mit den Spitzen nach oben. Herr Onobue hebt sein Weinglas Herrn Peters entgegen, grüßt ihn mit einer knappen Verbeugung. Auch Sabina wendet sich langsam Herrn Peters zu, sie lächelt mit einem Anflug von Zuversicht und prostet mit ihrem Glas in seine Richtung.

Arigató. Domo arigató. Ich weiß Bescheid. Herr Peters spricht leise, trinkt dann mit einem einzigen langen Schluck aus. Ich habe es versucht. Mir Mühe gegeben. Aber na gut. Les jeux sont faits. Rien ne va plus. – Ein Ruck geht durch den Mann, er steht kerzengerade, den Blick in eine nicht einmal ihm bekannte Ferne gerichtet. Der Kellner sieht an ihm vorbei, nestelt mit einer Hand an einer roten Stecknadel in der Kragenecke seines Hemdes. Inzwischen sitzen vier oder fünf Autofahrer auf den Randsteinen, telefonieren oder lesen Zeitung oder tun nichts. Ihre Autos haben sie stehen gelassen, die restlichen Fahrzeuge winden sich in einem Slalom um sie herum. Herr Peters hebt die Augenbrauen, höher, immer höher, mit ihnen streckt sich die Nase, ziehen sich die Lippen gymnastisch zum Oval, erst im dritten Wimpernschlag fällt das Gesicht wieder in seinen Alltag zurück. Allerdings und unverkennbar hat es etwas hinzugewonnen, eine Ahnung, die den Mann das Kinn nach vorn schieben läßt und ihn aufrichtet, ihn, der die Kunst der Spieluhr an fremden Küsten blühen sieht. Er lockert die Schultern, räuspert sich.

Schäumende Zeit. Das mit dem Brühwürfel werde ich mir überlegen. Wir hätten es zusammen erfinden können. Jetzt sieht die Sache natürlich anders aus. Ganz anders. Was glauben die denn? Schaum, damit fängt doch alles erst an. Mein Schaum. Exakt.

Dann zieht er die Zeiger aus der Erde, legt sie auf das Tablett des Kellners. Er knöpft sein Jackett zu, schlüpft in den Mantel, nimmt seinen Aktenkoffer und geht in die entgegengesetzte Richtung davon.

Ulrike Budde, 2004/Juli 2008