Artur und das in uns


Für Offene Gärten an der Ahr
Lesung in den Geheimen Gärten Rolandseck
15. September 2024

Artur fragt seine Großmutter: „Wie geht das: Leben?“

Großmutter schaut den Jungen eine Weile an. „Artur“, sagt sie schließlich, „Artur, lebe wild und gefährlich.“

Was aus Artur wurde, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass die Postkarte mit dem Foto eines circa 10jährigen Jungen, der eine knielange, verschrappte Hose trägt und ziemlich ernst in die Kamera schaut, seit rund 30 Jahren ein Verkaufshit ist. Der Text neben dem Bild lautet: Artur, lebe wild und gefährlich.

Neben wie vielen Spiegeln steckt diese Postkarte? Wie viele haben sie zum Geburtstag, zur Ehescheidung oder zum Beginn der Rente bekommen?

Ein Stück bedrucktes Papier empfiehlt, wild und gefährlich zu leben und wird zehntausendfach gekauft, verschenkt, verschickt.

Ein Traum – über den wir nichts erfahren. Jede und jeder von uns stellt sich unter „wild“ und „gefährlich“ etwas anderes vor.
Wunsch nach Entgrenzung, nach nicht voraussehbarem, aber erwartbarem Abenteuer, nach der Herausforderung durch die Begegnung mit etwas Starkem, das es zu beherrschen gilt – das kann ein kräftiger Motor sein. Viele von uns sehnen sich nach dem Wilden, nach Situationen, in denen wir zeigen und beweisen, was auch noch in uns steckt, außer dem bekannten Gesicht und den vertrauten Reaktionen.

Für manche wahrscheinlich auch ein Albtraum. Wenn die Schranken des Gewohnten fallen, verlieren wir die Sicherheiten, die uns bisher durch die Tage und Nächte gebracht haben.

Viele Jahre besaß meine Familie ein kleines Stück Land am Rand eines großen, teilweise trocken gefallenen Moorgebiets. Man konnte dort nichts weiter tun als sich aufzuhalten, keine Hütte für Gerätschaften bauen, keine feste Bank, keinen Tisch, nichts. Wir mussten immer alles mitbringen für einen Sommertag im „Moos“, wie das hieß. Für meine Schwester und mich war es fast unverzichtbar, irgendwann loszulaufen, jede für sich, durch das Unterholz, über die zugewachsenen Dämme, durch Schilf-streifen und Bäche, und nachzuschauen welche Libellen an einem tiefschwarzen kleinen See flogen. Ich lief und lief dann, kletterte auf brüchige Hochsitze, um bis zum weit entfernten Segelflugplatz zu schauen, auf dem sich vielleicht gerade ein Artur auf einen Flug vorbereitete. Ich blieb unten dann vielleicht stehen, beobachtete einen Schmetterling oder kitzelte mit einem Grashalm eine dicke Grille aus ihrem Loch.

Oder einfach nur so. Einfach nur so, weil das Gefühl, allein zu sein in dieser unregulierten, von den Torfstechern längst verlassenen Gegend, unbeschreiblich schön war. In der Verloren-heit war ich ganz bei mir. Meiner viel jüngeren Schwester erging es auf ihren Streifzügen genauso; wir haben inzwischen oft darüber gesprochen und festgestellt, dass diese – aus Erwachsenensicht völlig verantwortungslosen, gefährlichen – Stravanzereien in unsere innerste DNA eingegangen sind, uns geprägt haben, mit einem nie ganz gestillten Verlangen nach Aufbruch, Neuem, nach Mut zum Wilden, Unbekannten. Wir, Kinder damals, haben uns darin völlig aufgehoben gefühlt. Haben uns selbst vertraut, obwohl es keine Wege, keine helfenden Menschen, nichts Unterstützendes gab, um wieder sicher zurück zu kommen.

Ist die Natur, die Welt außerhalb unserer eigenen Körperlichkeit, „wild“?

Wie soll man das beantworten? Sie ist in ihrem Wirken das, was wir in den Wissensbereichen Physik und Chemie zu erfassen suchen. Wenn wir die von dort bekannten Gesetzmäßigkeiten ignorieren, kann das schmerzhaft werden, sehr schmerzhaft. Das Ahrtal hat es erfahren. Mit tonnenschwerer Wucht breiteten sich Wassermassen aus und rissen alles mit, was diesen Kräften nicht standhalten konnte.

Längst lädt die Ahr wieder ein zu Badespaß oder Spaziergängen. Wer aber beispielsweise in Stille den Weg in Bodendorf am Sportplatz vorbei bis zu den Steinmanderln geht, kann sich auf den Gegensatz einlassen, den dieser kleine Fluss den Menschen hier gezeigt hat: eine Nacht des Tobens, der Zerstörung, der schrankenlosen Wildheit gegenüber dem verspielten Plätschern zwischen Wiesen und Hügeln, wie zuvor und seitdem wieder gewohnt.

Eines der Projekte, die in der Reihe über Offene Gärten an der Ahr vorgestellt wurden, befasst sich mit dem Konzept des Rewilding. Naturflächen wieder ganz sich selbst zu überlassen, Menschen sind nur vorgesehen, um Bestände von Zugvögeln zu erfassen oder ähnliches. In den Nationalparks der Alpen und im Bayrischen Wald geht man ebenso mit Waldgebieten und Felsen um, im Berchtesgadener werden nicht einmal Gemsen, die sich in den Felsen zu Tode gefallen haben, geholt, da sie Futter für die Adler und Geier dort sind.

Viel mehr solche Gebiete könnten in Deutschland, das nicht wirklich ein großes Flächenland ist, vermutlich kaum eingerich-tet werden. Sie sind ausgewiesen, teilweise mit Zäunen gesichert, und es wird kontrolliert, dass sich niemand unerlaubt dort aufhält. Passieren könnte einem sowieso nicht viel, die paar Bären und Wölfe, die sich da vielleicht wieder herumtreiben, gelten als scheu.

Wer sich aber beispielsweise in New Mexico außerhalb von Santa Fé in die Wälder aufmacht, muss damit rechnen, einem Puma, einer unfreundlich gesonnenen Schlange, giftigen Spinnen und anderen Wesen zu begegnen, die einem Menschen schnell viel Schaden zufügen können, von den Gefahren aus der Beschaffenheit der Landschaft ganz abgesehen. Dort ist Natur tatsächlich eher „wild“, auch wenn sie kartographiert ist, ab und zu aus der Luft überwacht wird und den Rangers einigermaßen vertraut sein dürfte.

Rewilding bedeutet Aufgabe der Kontrolle – das widerspricht erst einmal unserem Überlebensstreben. „Das kann nicht gut sein.“ Eine Blumenwiese im einen Garten, englischer Rasen nebenan – schon sind Konflikte möglich. Strategien, wie man mit der Welt umgehen sollte, prallen aufeinander.

Haben wir aber nicht gelernt inzwischen, dass in Freiheit entlassene Natur auch uns über kurz oder lang gut tun wird? Doch, haben wir. Die Klugheit der Blumenwiese leben zu lassen, ist aber vielleicht ein Schritt, der für viele eine Herausforderung darstellt, Kontrolle über die Natur sieht manche gleich Kontrolle über das eigene Leben. Man möchte gern Chefin bleiben trotz der inneren Gewissheit und auch Erfahrung, dass das ziemlich daneben gehen kann.
Natur jeder Art, sowohl die physische wie die seelische, folgt ihren eigenen Gesetzen. Wer die, nach denen für uns „Wildes“ lebt, nicht anerkennt, wird es unter Umständen, die man vielleicht doch nicht so herbeiführen wollte, als das Gefährliche kennenlernen. Spaziergänge in der Sahara oder im Packeis der Arktis sind kein „Spaziergang“. Wir sehen uns vor gegen Hitze oder Kälte, gegen Skorpione oder Eisbären.

Gegen die Natur, die nicht zu unserem Dasein passt.

Gegen das Wilde in uns selbst können wir uns oft nicht so wappnen. Wenn wir ehrlich wären, würden wir die Gewitter-wolken erkennen, die sich über unserem Herzen aufbauen. Wir sehen sie, schieben sie in Gedanken weg, das Vertraute ist stärker, wird Bestand haben, da sind wir sicher. Irgendwann aber bricht das Unwetter los, und trifft uns schlecht vorbe­reitet. Unglaublicher Kummer, große Trauer, eine herrliche Verliebtheit – sie überfallen uns „wie aus heiterem Himmel“ – und wir hätten sie kommen sehen können, wenn wir imstande gewesen wären, hinzuschauen.

Aber will man das eigentlich immer? Nur und ausschließlich in der Sicherheit leben wie ein Baby in der Wiege? Nein. Wir brauchen die Veränderung, das Auseinanderbrechen des Alten, damit mit Glück und Geduld Neues daraus entstehen kann, was auch immer es sei.

Bricht die uns umgebende Natur, unsere physische Heimat, aus den von uns gesetzten Begrenzungen aus, wirft sie oft das Unterste zuoberst. Im besten Fall. Gelegentlich entsteht, was wir als Katastrophen bezeichnen – das Wort enthält die altgriechische Silbe Kata für eine Art Umwirbelung, eine starke Richtungsänderung, wie wir sie auch in Katapult finden, in Katarakt, Katalog (eine Liste mit einem Aufbau).

Was wir als Katastrophen erleben, sind in der Natur völlig selbstverständliche, erklärbare Abläufe. Haben wir sie nicht vorausbedacht, sind wir ihnen ausgeliefert und können danach hoffentlich nur von Glück reden. Wild und gefährlich sind solche Ereignisse allein für Zuschauer. Wer sie erleiden muss, bleibt oft schwer gezeichnet von den Schrecken und Anstrengungen. Und hinterher wird man erkennen können – so man es will -, wo besser gebaut, anders geplant oder auf manches verzichtet werden muss. Neue Baupläne werden gezeichnet, Straßen verlegt, Schutzmauern errichtet werden.

Auch unsere eigene, verborgen gehaltene Wildheit kann immensen Schaden anrichten, wenn wir sie nicht in Bahnen lenken, die unserem Leben gerecht wird. So befreiend sie ist und so punktgenau sie uns Sehnsüchte, Defizite, Hoffnungen aufzeigt, so wird sie doch erst in bestem Sinn wirksam wie eine Arznei des Lebens, wenn wir mit einem neuen Wissen weitergehen.
Das Wilde in uns selbst braucht vielleicht nicht so sehr eine wilde, entfesselte Natur, die zwar das Letzte von uns fordert, aber im Zweifelsfall doch die stärkere Kraft bleibt.

Das Wilde in uns selbst braucht möglicherweise einfach nur den Mut, morgen endlich das anzupacken, wovon wir schon lange träumen – und wovon wir wissen, dass es gefährlich werden kann: für das Vertraute, Warme, Alte.

©Ulrike Miller, September 2024